Bilder wandern: Transformative Rezeption
Zur Geschichte der Spielkarten
Der "Homo Ludens" hat sich in Österreich und der Schweiz kickend ausgetobt. Wir berichten nicht über Fußball, auch wenn das ökonomisch-gesamtgesellschaftlich-staatstragend durchorganisierte Fußballspiel die visuelle Kultur unseres Landes um Ungeahntes, z.B. beflaggte Autos, beschalte Menschen und Fetzenlaberlbrote, bereichert hat. Wir bleiben bei traditionsreichen Druckwerken, den Spielkarten, in denen sich der Spielcharakter unserer Kultur schön manifestiert.
Von Michael Schneider und Philipp Maurer
Spiele standen, wie Johan Huizinga (Anm. 1) ausführte, am Anfang unserer Kultur, Spielkarten standen am Anfang der Druckgraphik. Sie tragen in ebenso hohem Maß zur visuellen Kultur bei wie die Kirche mit ihren Bildern und Prozessionen, wie der Sport mit seinen rituellen Handlungen (die der Religion, wie das Wiener Dommuseum gerade eindrucksvoll zeigt, nicht so fern stehen), die Herrschaft mit ihren Symbolen und die Wirtschaft mit ihren Ankündigungen, Werbungen und Versprechungen. Konkreten Anlass zu dieser Betrachtung geben uns die Spielkarten, die seit knapp einem Jahr im neu eröffneten Landecker Museum zu bewundern sind und die vermutlich die ältesten erhaltenen gedruckten Spielkarten im deutschen Sprachraum sind.
Die Landecker Spielkarten
Die Landecker Spielkarten stammen nicht aus einem einzigen Kartensatz. Ihre Entstehung ist in die Zeit zwischen 1440 und 1460 zu datieren, sie gehören also zu den ältesten in Österreich erhaltenen. Damit sind sie jedenfalls ein Beleg für den enormen Aufschwung der Spielkarten-Holzschnittproduktion. Dass diese Karten etwas Besonderes waren, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass das bedruckte Blatt immer wieder auf neuen Karton geklebt wurde, um die Haltbarkeit der Karten zu verlängern. Das Museum verdankt diesen kostbaren Besitz einem geschickten Vertrag, den einer der ersten Direktoren für das Haus abgeschlossen hat. Als Josef Tscholl die barocke Stubentäfelung des alten Widums in Fließ für das Museum erwarb, tat er dies mit allem, was sich inter der Täfelung befand. Die Überraschung war groß, als hinter der barocken Täfelung eine gotische zum Vorschein kam und hinter dieser die Spielkarten.
Formal zeigen die Landecker Karten eine größere Nähe zu jüngeren Spielkarten aus der Schweiz (Jass-Karten) als zu Karten des bayrisch-tirolerischen Raums, was auf den ehemals einheitlichen Kulturraum von Engadin und Inntal hinweist.
Eine absolute Rarität innerhalb historischer Spielkarten stellt die Herzkönigin dar. Nicht nur, dass der König durch die Königin ersetzt wurde, die Königin sitzt nackt am Thron. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die Landecker Karten oft als erotisches Kartenspiel angesehen werden.
Die Landecker Karten werden im Museum in Landeck durch Spielkarten aus der Privatsammlung Preuss ergänzt, die einen Einblick in die historische und gegenwärtige Vielfalt und Entwicklung der Spielkarten gibt. Das Museum beschäftigt sich mit der Bedeutung der Migration für das obere Inntal, das sowohl Ost-West als auch Nord-Süd Verbindung durch die Alpen ist, und zeigt, wie diverse Wanderbewegungen über die Jahrtausende die Kultur der Region geformt haben - Wanderbewegungen, die auch in der Wanderung des Kartenspiels ihren Niederschlag gefunden haben.
Spiel und Spielkarten im 14. Jahrhundert
Das Spiel mit Karten bereicherte ab circa 1376 die ausdifferenzierte Spielelandschaft mitteleuropäischer Städte und Dörfer um eine interessante, bildschaffende Variante. In den tiefgreifenden wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen im 14. Jahrhundert (vgl. Um:Druck Nr. 2/06, S. 17) bot das Glücksspiel eine vielversprechende Alternative. Gespielt wurde um alles: um Geld, um den Hof, um die Frau, um eigene Gliedmaßen. Die schlechte Wirtschaftslage verstärkte die Spielleidenschaft, denn das Spiel bot Aussicht auf raschen Gewinn, wohingegen die religiöse Mystik, die im 14. Jahrhundert ebenfalls aufblühte, Hilfe erst für das Leben nach dem Tod in Aussicht stellte. Beide allerdings trugen zur Entfaltung der visuellen Kultur bei: religiöse und Spielkartendrucke boomten als Reaktionen auf die wirtschaftliche Lage: einerseits Glaube, andererseits Risiko. Beides beflügelte weitere wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen. Die Parallele zur Gegenwart fällt auf: Seit einigen Jahren wird das Glücksspiel immer populärer, bis hin zu früher schlecht beleumundeten Spielen wie Poker (für das es sogar bereits ein Ausbildungszentrum in Wien gibt!), und das Glücksspiel bzw. die Werbung dafür bestimmt die öffentliche Bilderwelt immer deutlicher: Auf zahlreichen Budeln von Trafik bis Postamt findet man die Lose.
Die Spielleidenschaft des 14. Jahrhunderts finden wir nicht in quasi positiven Quellen dokumentiert, sondern in negativen, nämlich den Verboten der diversen Stadtverwaltungen, so in Florenz 1377, Regensburg und Konstanz 1378, Nürnberg 1380, Flandern 1382. Diese Flut an Verboten des Kartenspiels, neben umfangreichen Verbotslisten anderer Spiele, beweist die Beliebtheit des Spiels, das offensichtlich starke Bedürfnisse einer städtisch-bürgerlich-proletarischen Bevölkerung erfüllte. Kartenspiele galten immer als reine Glücks- und Geldspiele, die zu Streit, Mord und Totschlag, Bankrott und Familiendramen führten, sodass eine auf Ordnung bedachte Obrigkeit sich präventiv einzugreifen verpflichtet fühlte. Als das Spiel vorher schon bei Hofe aktuell war, gab es selbstverständlich keine Verbote.
Tatsächlich dürfte es in den Anfängen des Kartenspiels nur an den Höfen genügend Kapital gegeben haben, um von Illustratoren, deren Hauptjob die Illuminierung von Büchern, auch volkstümlichen, war, die teuren handgemalten Spielkarten anfertigen zu lassen. Entsprechend der steigenden Nachfrage nach dem geheimnisvollen, wunderbaren höfischen Spiel verwendeten die Illustratoren die neue Technik des Holzschnitts, in der sie auch die gefragten volkstümlichen Bücher herstellten, für ihre Spielkartenproduktion. "So wurde als in Deutschland um 1380 das Problem des Spielkarten-Massenbedarfs durch Erfindung des Holzschnitts gelöst." (Anm. 2) Wir sehen also: nicht nur der Bedarf an Heiligenbildern, vor allem dem heiligen Christophorus, und Erotika (Anm. 3) beförderte die neue Technik, sondern ebenso die allgemeine Spiellust. Ob Spielkarten nicht vielleicht die am meisten hergestellte Bildsorte waren, lässt sich schwer prüfen, da Spielkarten, für den täglichen Gebrauch bestimmt, dem täglichen Verbrauch unterlagen. Mit der Erfindung und Nutzung des Holzschnittes war das Vergnügen dem Volk zugänglich und eine massenweise Produktion setzte ein. Selbstverständlich in unterschiedlichster Qualität: die Kunstgeschichte gibt sogar einem qualitätvollen Künstler den Notnamen "Meister der Spielkarten", von dem das Berliner Kupferstichkabinett einen Satz verwahrt.
Transformative Rezeption
Die Verbreitung der Spielkarten über den Globus ist ein eindringliches Beispiel für die evolutionäre Natur der Kultur. Neben unzähligen Varianten von Spielen gibt es unzählige Varianten von Karten. Das Spiel hat in seiner Geschichte unzählige Kulturgrenzen überschritten, nicht immer unbeschadet. In der Evolution der Ikonographie der Spielkarten zeigt sich nicht nur Kulturverständnis, sondern auch Missverständnis.
Die Bilder, Symbole und Zeichen, die von den Holzschneidern verwendet wurden, nahmen eine eigenartige Wanderung: sie dürften im 7. Jahrhundert in China entstanden sein und von dort über den Landweg entlang der Seidenstraße, als nördlich des Himalajagebirges, über Persien in den Mittelmeerraum nach Italien und Spanien, über die Alpen und Pyrenäen nach Norden und schließlich von dort auf die Britischen Inseln gekommen sein. Von Europa wanderten die Karten westwärts nach Amerika und ostwärts nach Russland, und von Portugal auf dem Seeweg nach Japan. auf diesen Wanderungen wandelten sich Form und Inhalt der Karten.
Aus den Farben des arabischen Spiels, dem Schwert, Poloschläger bzw. Knüppel, Becher und Münze, wurden die deutschen Farben Eichel, Laub, Herz, Schelle und die französischen Treff, Pik, Herz, Karo entwickelt. Die arabischen Figuren König und Vizekönig wurden in Europa König, Ritter und Bube, wobei in Frankreich die Dame den Ritter ersetzte, zweifellos eine Reminiszenz an den aus der Minnekultur entwickelten Frauenkult des späten Mittelalters. Man übernahm also Aufgefundenes, da es für die Bilder im eigenen Kulturkreis noch keine Entsprechungen in der Realität gab, und adaptierte es gemäß dem eigenen Geschmack, der eigenen Tradition, den eigenen Notwendigkeiten, weil die gesellschaftlichen Wertungen andere waren: es spielte sich das immer wiederkehrende Schema der verändernden Übernahme ab. Im Zuge dieser transformativen Rezeption werden die Spielidee und das Spiel selbst samt den zugehörigen Bildern wiederholend und variierend übernommen. Man versucht, etwas für sich Geeignetes, vor allem aus der eigenen Kultur stammendes, aus dem Vorgefundenen zu machen, es der eigenen Kultur anzuverwandeln. Diesen aktiven Vorgang können wir als verändernde Aneignung oder aneignende Veränderung bezeichnen. Auch Neues wurde hinzugefügt: Dies ist speziell in der Graphik, also in der vervielfältigten und daher verbreiteten visuellen Kultur, ein charakteristischer und typischer Vorgang. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Gesicht Jesu Christi, das aus der Tradition des Schweißtuches der Veronika typisiert und immer wieder in zahllosen Variationen wiederholt wurde. Ebensolches gilt für die Logos schaffenden Bildfindungen Albrecht Dürers, vor allem die vier apokalyptischen Reiter, die in unzähligen Variationen "abgekupfert" wurden, sowie für seine betenden Hände. Besonders populär wurde und ist der heilige Christophorus.
Sozialpublizistische Funktion
Das Kartenspiel war vermutlich die beliebteste Freizeitgestaltung der Bevölkerung vor dem Fernsehzeitalter. Alle spielten: Knechte, Bauern, Soldaten, Bürger, Geistliche, Adelige. Und zwar in allen Situationen. Im kaiserlichen Feldlager fordert der Trompeter auf: "Lasst die Knöchel, lasst die Karten, Kaiserliche Feldstandarten soll ein Reiterlied erfreuen", um dann das Prinz-Eugen-Lied anzustimmen (Anm. 4), Folterknechte im Kerker spielen neben dem zur Streckung aufgehängten Beschuldigten.
Da die Spielkarten dank ihrer Beliebtheit große Verbreitung und Aufmerksamkeit erreichten, wurden und werden die spielnotwendigen Farb- und Wertzeichen in publizistischer, politischer, ökonomischer Absicht ergänzt um Abbildungen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen, sodass Spielkarten auch sozialpublizistische und Bildungsfunktionen erfüllen. Quartettspiele werden gerne als Lehr- und Lernspiele gestaltet, Schnaps- und Tarockkarten zu Bildergalerien mit Segelschiffen und Autos, Berühmtheiten und Erotika. Da die Rückseite der Karten einheitlich gestaltet sein muss, ist hier Platz für Werbung aller Art.
Nach Johan Huizinga hat unsere Kultur auch selbst Spielcharakter - und das trifft gerade auf die des beginnenden 21. Jahrhunderts zu: Kultur hat die emotionale Intensität des Spiels gepaart mit Spaß, Witz und fun, einem erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der heutigen Bedeutung gebräuchlichen Wort. Im Kartenspiel schon des späten Mittelalters, das selbstverständlich immer um Geld gespielt wurde, finden wir den heutigen Slogan "no risk - no fun" idealtypisch verwirklicht. Das Wesen des Spiels aber ist nicht der Stoff, also die materiell vorhandenen Spielkarten, sondern der Geist: fun und Witz. Diese Paarung von Emotionalität und Spaß verlangt nach der symbolhaltigen bildlichen Darstellung, nach "Verbildlichung der Wirklichkeit". Die Verbildlichung der Welt im Spiel vom Mittelalter bis heute ist erkennbar im Hofkartenspiel mit seinen Königen, Damen und Junkern bis hin zu den Zeremonien beim Einmarsch der Fußballmannschaften im Rahmen der Europameisterschaft. Das Spiel vermittelt Ideale und scheint sie zugleich zu erfüllen: die Leichtigkeit, die Heiterkeit, aber auch das nationale Pathos, die maximale Anstrengung des Körpers und des Geistes in einer zeitlich und räumlich begrenzten Welt (Spielzeit, Spielplatz) nach festen Regeln. Diese Spielregeln schaffen Ordnung, stellen Werte dar. Insofern ist das Spiel ein wertevermittelndes und wertetrainierendes Medium, das sich seine adäquaten Bilder im kulturellen Umfeld sucht. Dies tun die Spielkarten in den sich im Laufe der Jahre verändernden Darstellungsthemen, wobei aber die grundlegenden Symbole und Kartenwerte gleich bleiben. Und als wertevermittelndes Medium ist das Spiel herrschaftsstabilisierend und gruppendemonstrierend: siehe die Fähnchen auf den Automobilen, siehe die wechselnden Themen der Spielkartenbilder: Helden, Fußballer, Götter, Automobile,
Erotika, ...
In der Vermittlung von Werten erlauben sich die Kartenspiele - es ist ja doch ein Spiel! - auch die Umkehrung der Werte: der Junge sticht den König, der Jolly, d.h. der Narr!, ersetzt alle anderen Karten, nimmt also eine Rolle ein, die ihm im realen Leben nicht vergönnt war. Allerdings reflektiert die Rolle des Narren im Kartenspiel die mediale Rolle des Narren in der mittelalterlichen Gesellschaft, der Wahrheiten äußert, den Schmäh rennen lässt und zwischen Streitenden vermittelnd agiert. Insofern erfüllt das Kartenspiel auch eine Ventilfunktion für gesellschaftlichen Leidensdruck.
Anmerkungen:
(1) Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, Hamburg 1956
(2) H. Rosenfeld, zit. nach: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung. Hrsg. v. Alexander Dückers, Akademie Verlag, Berlin 2.1994, S. 65
(3) vgl. Um:Druck 2/06, S. 17
(4) Text von Ferdinand Freiligrath, vertont von Carl Löwe