Punkte, die die Welt verbinden
Von Manfred Kremser
Ein Künstler, der mit steinzeitähnlichen Faustkeilen den binären Code gleichsam in seine Werke schlägt, verbindet nicht nur die älteste Technologie der Menschheit mit der neuesten Technologie des digitalen Zeitalters. Einen zeitgenössischen Künstler, dessen Holzdrucke bisweilen an die Bildersprache urzeitlicher schamanischer Felsbild-Darstellungen erinnern und nunmehr auch den Cyberspace bewohnen, wird man bald als Cyber-Schamanen bezeichnen. Michael Schneider verdient bereits heute diese Bezeichnung. Er greift tief in das metaphysische Reservoir allgemeinmenschlicher Ur-Motive hinein und schlägt damit nicht nur zeitliche und räumliche Brücken, sondern übt in seinem Werk, Raum/Zeit transzendierend, eine ständige Verschmelzung der Welten.
Mit seinen 6 Faustkeilen (der 7. Faustkeil ruht) klopft er unentwegt am Puls der Schöpfung, um sie immer wieder auf den Punkt zu bringen - auf den Punkt, aus dem heraus die Welt entsteht, jedes Mal von neuem. Dieser Punkt, der in der indischen Yantra-Meditations-Kunst „Bindu“ genannt wird, enthält in sich sämtliche potentiellen Möglichkeiten der Schöpfung. In ihm ruht die gesamte Welt latent verborgen, bis sie durch den Akt der Kreation befreit und in Form verwandelt wird.
Indem Michael Schneider diesen Punkt zum Ausgangsprinzip seines Schaffens erhoben hat, versetzt er sich mit jedem Schlag auf den Druckstock an diesen uranfänglichen Ausgangspunkt der Genesis zurück. So agiert er gleichzeitig in der absoluten Gegenwart und dort, wo alles seinen Anfang nahm - ein Pendler zwischen simultaner Codierung und Decodierung, zwischen den extremen Polen des Alles und des Nichts. In jedem Schlag schlägt beides mit!
Und auch wir als Betrachter werden voll in diese Spannung der Polaritäten mit hineingezogen. Plötzlich erinnern wir wieder Gegenwärtiges, welches den Ursprung in sich trägt. Wir sind nicht nur hier und nicht mehr nur dort, wir sind überall. Durch den willkommenen Verlust der raum-zeitlichen Dimensionen haben wir Anteil an einer größeren Welt, in der alles gleichzeitig stattfindet. Ja, das Unendliche findet im Endlichen statt. Für kurze Zeit verschmelzen diese Welten - und wir mit ihnen. Dann sind wir dort und sind zugleich mehr bei uns, als wenn wir nur bei uns sind.
Was nun ist für mich das Geheimnis der von Michael Schneider aus dem Ur-Punkt befreiten Formen? Warum lösen sie eine unendliche Kette der Erinnerung aus, die ich aber an nichts Konkretem festmachen kann? Ist es etwa der Umstand, dass die „unentschlüsselten tafeln“ von Michael Schneider den Schlüssel zur Potentialität und nicht zur Manifestation liefern wollen - zu jener Potentialität, die ein Umkippen in beliebig viele Lesemöglichkeiten erlaubt? Ein Kosmos voller Metamorphosen, die der Künstler vor unser forschendes Auge legt, damit sie sich verwandeln können - damit wir die Schöpfung nach unserem eigenen Eben-Bilde weiterführen.
Aus: Schneider, Michael: unentschlüsselte tafel . rekonstruktionen. Wien: edition ps 1998, S. 63-64
Dr. Manfred Kremser (1950 - 2013) war Ethnologe und ao. Univ.-Prof. am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.