Der erweiterte Kunstbegriff
Zur Übertragung einer Gestaltung für den öffentlichen Raum. Von Michael Schneider
Die schnelle Skizze auf dem Blatt, die detaillierte Zeichnung auf grundierter Bütte, die 3D Animation auf einem ebensolchen Monitor, sie alle übertragen unsere Idee in eine Form. Ohne diese Übertragungen könnten wir niemals die Bilder unseres Denkens teilen. Es ist die Übertragung von Erkenntnissen über eine Sache auf eine andere, die Übertragung von Vorstellungen und Ideen über eine Sache auf eine andere, die Übertragung von Vorstellungen und Ideen einer Person auf eine andere, die Übertragung auf viele mit Hilfe der Druckgrafik ist mir ein konstituierendes Element unserer menschlichen Natur und der daraus entwickelten Kultur.
So ist mir die Übertragung zu einem zentralen Thema meiner Arbeit geworden.
Die Passage Johnstraße war über Jahre Teil meines Weges in mein Atelier. Mit der Fertigstellung der Gestaltung der Passage hat sich meine Arbeit auch auf meinen Weg übertragen, ist der Weg zur Arbeitsstätte zum integralen Bestandteil meiner Arbeit geworden.
Die Druckgrafik, mein Labor, in dem ich meiner eigenen Wahrnehmung und Mitteilung nachforsche, der Nukleus unserer von Kommunikationstechnologie bestimmten Kultur, das Grundmuster der Medienkunst und die einzige Möglichkeit für Kunst, mit der Intention zur Publikation selbstbestimmt und mit der Kontrolle über die produktiven Mittel herzustellen, ist das erste und zentrale Mittel der Übertragung.
Den Mechanismen der Übertragung nachzuspüren, sie zu verstehen und in Bilder zu setzten ist die Druckgrafik besser geeignet als jedes andere Medium der Kunst. In ihrer Erfindung war die Übertragung von Qualitäten eines Objektes auf ein anderes ursächlich.
Wird ein Bild in einen Druckstock übertragen, so hat zuvor schon eine Übertragung unserer Vorstellung in ein Bild stattgefunden. Im Druckstock selbst zeigen sich Spuren der verwendeten Werkzeuge, die wiederum eine Übertragung von Qualitäten von einem Objekt auf ein anderes darstellen.
Im Druck wird mit der Übertragung von Farbe als Mittler ein ausgewählter Bereich an Qualitäten auf ein Blatt Papier transferiert. Unsere Vorstellung, nun ein Bild, übertragen auf das wichtigste Medium unserer Kultur, war bei all diesen Übertragungsschritten einem Wandel unterworfen.
Wir suchen nach der verlustfreien Übertragung. Die Faszination der digitalen Kopie stammt auch aus der Hoffnung auf eine verlustfreie Kommunikation. Unsere nun schon Jahrtausende währende Suche nach einer technischen Lösung für unser kommunikatives Grundproblem in der menschlichen Gesellschaft, die Übertragungsverluste, hat sich in uns festgesetzt wie der Traum vom Fliegen.
In der Arbeit „übertragung“ für die Station Johnstraße der Linie U3 der Wiener Linien war es möglich, die Funktion der U-Bahn und die meiner Arbeit zugrunde liegenden Überlegungen in eine Einheit überzuführen.
Die U-Bahn, ein Netz von Lebensadern der Stadt, erlaubt die Übertragung von Menschen von einem Ort zu einem anderen und schafft damit ein komplexes Feld von Aktion und Interaktion in der Stadt. Die U-Bahn tut dies in der Geschichte der urbanen Technologie bislang am schnellsten.
Die technologische Entwicklung in Hinsicht auf Geschwindigkeit und Verlustfreiheit,
sei es im Transportwesen oder der Kommunikation, hat unser ganzes Leben beschleunigt.
Der Zeit ihre Geschwindigkeit, der Geschwindigkeit ihre Kunst.
Die Erfahrung der Welt, die im sinnlichen Erleben beginnt, hat sich zu einer zunehmend mittelbaren entwickelt. Vordringliches Mittel dieser Erfahrung im Visuellen sind die Druckgrafik und all ihre Abkömmlinge. Die mittelbare Erfahrung ist es, die uns zum einen entfremdet, zum anderen eine Äquidistanz zur Welt ermöglicht, die wir durch Übertragung erfahren können, in die wir uns übertragen können.
Ungeachtet des Mittels der Übertragung ist eine solche verlustfrei und veränderungsfrei nicht möglich. Die in der Übertragung auftretende Veränderung hat das Potenzial zur Entwicklung von Neuem. Speziell in der Druckgrafik, in der das Repetitive und Serielle zur Grundlage der Arbeit gehören, ist die Veränderung durch verschiedenste Schritte der Übertragung für die kulturelle Entwicklung der Menschheit essenziell.
Aus Übertragung, Übertragungsverlust und Übertragungsveränderung und der vielfachen Wiederholung dieses Prozesses haben wir eine Kulturmaschine gebaut. Gepaart mit einer menschlichen Natur, die sich durch Fehler und Missverständnis definiert und zur transformativen Rezeption führt, haben wir den Weg zur Kulturevolution gefunden, ohne uns dessen bewusst
zu sein.
„übertragung“ in der U3-Station Johnstraße versucht diese Kulturmaschine sichtbar zu machen, einzubetten in unser Verständnis, einzudringen in unsere sinnlich erfahrene Welt, um diese mit der mittelbaren Welt zu verknüpfen.
Michael Schneider wurde 1967 in Innsbruck geboren. Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der Tokyo University of the Arts in Japan. Seit 1990 arbeitet Michael Schneider intensiv in den Techniken des Holzschnitts und Holzdrucks. Statt der traditionellen Holzschnittmesser verwendet er in der Natur gefundene Steine, um Strukturen in die Holzplatte zu schlagen, und seit seinen Studien in Japan wasserlösliche Farben und Substanzen (Tusche,
Pigment, Graphit) zum Einfärben der Druckplatten. Für seine Forschungen auf dem Gebiet ungiftiger und computerunterstützter druckgrafischer Techniken wurde Michael Schneider 2005 mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet. Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in vielen Ländern Europas, in Japan, Korea, USA und Kanada. Neben seiner Arbeit als freischaffender Künstler ist Michael Schneider Assistenzprofessor an der Webster University in Wien und Senior Artist an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er lebt und arbeitet in Wien und Landeck/Tirol.
Die Ausstellung „übertragung“ eröffnet mit den Holz- und Polymerdrucken Michael Schneiders das neue Druckgrafikzentrum „MyArt“ (1150 Wien, Gaudenzdorfer Gürtel 43-45) am 9. Mai (beiliegendes Programmheft).