Chinas Jahr der Druckgrafik
China feiert heuer 80 Jahre moderne Druckgrafik. Eine chinesisch-österreichische Druckgrafik-Ausstellung im Shanghai Hongqiao Contemporary Art Museum reiht sich ein in eine erstaunliche Liste an Präsentationen der Gegenwartsdruckgrafik und Versuchen, deren Geschichte zu schreiben.
Ein Bericht von Michael Schneider
Die Ausstellung in Schanghai fand vom 8. bis zum 16. September statt. Die Eröffnung war gleichzeitig der Startschuss für ein Symposion, das die Themen der Gegenwartsdruckgrafik und ihre Zukunft zu diskutieren hatte. Den Ausstellungs-TeilnehmerInnen aus Österreich, von denen mehrere angereist waren, bot das Symposion die seltene Gelegenheit für einen konzentrierten Austausch mit einer Reihe von KollegInnen aus China, die nicht nur unterschiedliche Generationen vertraten, sondern auch unterschiedlichste Sichtweisen.
Der Anlass für all die Veranstaltungen, Ausstellungen, Bücher und Gespräche ist ein bei uns kaum
wahrgenommenes Großereignis in China, das „Jahr der Druckgrafik“. Der Grund dafür wiederum ist einer, der ebenso unbemerkt geblieben wäre, wären die chinesischen KollegInnen nicht gewillt gewesen, das Jubiläum mit ausländischen KünstlerInnen zu teilen. 80 Jahre ist es nun her, dass Lu Xun (1881 – 1936), Schriftsteller, Intellektueller und Kunstsammler, seine Sammlung sozialkritischer Druckgrafik aus Deutschland, Österreich, Russland und anderen westlichen Ländern in Schanghai präsentierte. Arbeiten von Käthe Kollwitz, George Grosz, Lyonel Feininger und Zeitgenossen gaben in China wie auch in Japan einen tiefgreifenden Anstoß für KünstlerInnen, die Druckgrafik neu zu betrachten und zu verstehen.
Lu Xun, der als Schriftsteller (auch Lu Hsün transkribiert, mehrere Übersetzungen ins Deutsche erhältlich) eine wegweisende Position in China einnimmt und dessen Einfluss auf die Literatur des modernen China unbestritten ist, war auch ein begeisterter Sammler von Grafiken, die seinem Verständnis von Aufklärung, Humanismus und revolutionärer, sozialer Aktion entsprachen. Er hatte in Japan Medizin studiert, trat auch als Übersetzter hervor und war mit der westlichen Literatur seiner Zeit gut vertraut. So war es ihm möglich, die Grafiken seiner Sammlung im Kontext einer kulturellen Erneuerung, die er für die Entwicklung Chinas forderte, zu präsentieren. Eine Situation, die letztendlich den KünstlerInnen ein Medium eröffnete, das traditionell durch Verlagswesen und kommerzielle Strukturen geprägt war.
Die KünstlerInnen Chinas begannen, durch den Anstoß, den Lu Xun lieferte, druckgrafische Arbeit
als eine durch die Möglichkeit zur Publikation definierte, gesellschaftlich relevante Äußerung zu verstehen, die sich in die Notwendigkeiten der Zeit bestens fügte und den KünstlerInnen die Möglichkeit gab, gesellschaftlich aktiv zu werden.
Aus gegebenem Anlass zeigt das Lu Xun Museum in Schanghai die „Third Shanghai Contemporary Academic Printmaking“-Ausstellung, und das Museum der chinesischen Akademie der Künste in Hangzhou präsentiert in einer Großausstellung die Entwicklung seiner Druckgrafik-Abteilung von 1928 bis 2011. Das Zhejiang Art Museum bietet neben einer Präsentation des Werkes von Käthe Kollwitz die private Sammlung von Lu Xun und seine 19. Ausstellung chinesischer Druckgrafik.
All diesen Veranstaltungen ist der Versuch einer Standortbestimmung gemein. Die revolutionäre
Kraft der Druckgrafik, die die KünstlerInnen in den späten 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts weltweit fühlten, liefert heute nicht mehr die Energie, die Beschäftigung mit diesem Medium zu tragen, und speziell in China wurde die Druckgrafik und innerhalb dieser der Holzschnitt vom Medium der sozialen Kritik zum Medium der sozialistischen Propaganda und zum Sprachrohr der kommunistischen Partei.
Die aktuelle Situation in Österreich und China
Die österreichischen Beiträge zur chinesisch-österreichischen Grafikausstellung waren auch als Ausgangspunkt für die Diskussion über die gegenwärtige Situation der Druckgrafik und ihre Perspektiven geplant. Trotz vieler Unterschiede gibt es bei der Entwicklung des Mediums in China auch viele Parallelen zu Österreich und die heutige Situation ist eine sehr ähnliche geworden.
Während die Medienkunst, die ihren Ursprung in der Druckgrafik hat, mit der Entwicklung neuer Medien auch neue Ausdrucksfelder für sich entdeckte, blieb die Druckgrafik speziell nach der Erfindung des Offsetdruckes traditionellen Methoden verhaftet. Unnötiger Weise führte dies auch zu einer reduzierten Teilnahme am Diskurs über die mediale Kunst. Aber da neue Medien zunehmend „Print-outs“, „Hardcopies“, „Video-stills“ und andere Manifestationen ihrer virtuellen Existenz produzieren, sind die unter der Prämisse der aktuellen europäischen Druckgrafik entstandenen und die global präsenten Medienkunstwerke durchaus eng miteinander verwandt, wenn auch immer wieder klare Unterschiede zu Tage treten.
Ein Unterschied scheint mir in der Bedeutung prozessorientierten Arbeitens für den druckgrafischen
Bereich zu bestehen. Dieser aus dem Werkstatt-Betrieb stammende Ansatz, künstlerische Positionen aus der Auseinandersetzung mit dem Material und der Beherrschung der handwerklichen Fähigkeiten zu entwickeln, ist, obwohl immer wieder als Kunsthandwerk diskreditiert, heute eine wichtiges Feld für Experimente.
Dieses Laboratorium der Medienkunst, das sich in den Druckwerkstätten findet, erlaubt es heute, da
der Diskurs nicht mehr durch technische Definitionen eingeschränkt wird, unterschiedliche künstlerische Strategien und Konzepte experimentell durchzuführen und weit über den historisch definierten Bereich der Druckgrafik hinaus zu platzieren.
Der Beweis für diese Entwicklung zeigt sich bei der genaueren Betrachtung der Werke, die von KuratorInnen für bedeutende Großveranstaltungen der Gegenwartskunst, wie etwa die documenta, die Biennale von Venedig oder ähnliche, ausgesucht werden. Bei diesen, als Standortbestimmung gesehenen Veranstaltungen, ist die Zahl der Arbeiten, die sich druckgrafischer Strategien bedienen, erstaunlich hoch, wenngleich die Druckgrafik als solche dort nie thematisiert wird. Die Druckgrafik, eine Kunst, die aus der Intention zu Publizieren entsteht, ist ein ideales Labor für eine Zeit, deren Geist von Medien geschaffen wird und die ohne die Erfindung und gesellschaftliche Akzeptanz einer medialen Realität nicht erklärbar ist.
Die chinesischen TeilnehmerInnen
Deren Anzahl war um einiges höher als die der ÖsterreicherInnen, so ist es hier nur möglich, eine Auswahl der Positionen der chinesischen KünstlerInnen zu erwähnen.
Zhou Guobin ist nicht nur die treibende Kraft hinter der Kooperation mit Wien, seine Arbeiten, zumeist Siebdrucke, sind ein hervorragender Einstieg in die Beschäftigung mit der visuellen Kultur Schanghais. Wenn Zhou Guobin den Kolonialbauten des Bund (berühmte Promenade in Schanghai) in seinen Siebdrucken die Erscheinung von Pet-Flaschen internationaler Marken überstülpt, ist weder die formale noch die technische Nähe zur Pop-Art ein Zufall. Seine Arbeit spiegelt den Versuch wieder, das Bildgedächtnis Schanghais mit dem der Kunstwelt in Einklang zu bringen und gleichzeitig Verständnis für das eigene Erleben zu erarbeiten. Sein Werk „Shanghai No. 22-1“ zeigt die Porträts von Ikonen der Populärkunst und des Gesellschaftslebens der 1920er Jahre in Schanghai hinter der stilisierten Struktur der Schanghai Brücke.
Der Holzschnitt ist eines der bevorzugten Ausdrucksmittel auch junger chinesischer KünstlerInnen. Liu Qian zeigt in ihren Holzschnitten Alltagsszenen aus dem modernen und urbanen China. Die Unschärfe, die sie dabei über ihre Kompositionen legt, stehen in starkem Kontrast zu der Erwartungshaltung, dass das gedruckte Bild gestochen scharf und genau ist. Die Gesichter der dargestellten Menschen sind ohne Details, wie von einem Nebel verhangen. Die Szenen könnten durchaus solchen aus Drucken entlehnt sein, die im Auftrag der kommunistischen Partei entstanden sind, die dargestellten Menschen allerdings finden sich in einer völlig anderen Lebenssituation.
Yuan Fang hat, wie Liu Qian, am College of Fine Arts der Shanghai University studiert. Ihre eindrucksvollen Holzschnitte beschäftigen sich aber auf eine völlig andere Weise mit dem Leben der Menschen im modernen China. Unzählige Häuserreihen füllen das Blatt. Die technische Möglichkeit, mittels der Vervielfältigung dieses Bildes die verwirrende Masse an Häusern noch zu steigern, zeigt, wie sie das Medium verwendet, um ihre Botschaft zu verstärken.
Die Fülle an Themen, Positionen und erstaunlichen Werken, die von den chinesischen KollegInnen in die Ausstellung eingebracht wurde, sollte bei der von der Universität für angewandte Kunst und der Shanghai Universität vereinbarten gemeinsamen Ausstellung 2012/13 in Wien sichtbar werden, um den Dialog zu vertiefen und die in China begonnene Diskussion in Österreich weiter zu führen.
Die österreichischen TeilnehmerInnen
Bei dieser Ausstellung war es mir ein Anliegen, einige ausgewählte druckgrafische Strategien zu zeigen, die stellvertretend für Entwicklungen in Europa stehen können.
Wolfgang Buchta (vgl. Um:Druck Nr.9/08 und S. 1 dieses Um:Drucks), einer der profiliertesten Buchkünstler und Druckgrafiker in Österreich, hat sich ganz der Publikation durch und durch in bester Handwerkstradition geschaffener Bücher verschrieben. Die Nähe von Druck und Buch, die historisch offensichtlich ist und seit dem Trend zum e-book eine neue Dimension erhalten hat, führte speziell in den USA zu einer intensiven Beschäftigung von KünstlerInnen mit dem Buch als Kunstraum. Die Arbeit von Wolfgang Buchta, der schon seit Jahren das Buch als Raum des künstlerischen Schaffens gewählt hat, zeigt in dieser Situation die Möglichkeiten, aus der Geschichte der Druckgrafik zu schöpfen und mit einzigartigen Objekten zugrunde liegende Muster sichtbar zu machen: Bei seinem Projekt „Palimpsest“ arbeitete er, ausgehend von seinen eigenen Materialerfahrungen, mit der „Erinnerung“ der Kupferplatten an frühere Zustände, dem Schatten von Informationen und Botschaften. Er gab damit einer aus Mangel an Informationsträgern bis ins 15. Jahrhundert üblichen Vorgangsweise, bei der beschriebene Pergamente abgeschabt und mit neueren und vermeintlich wichtigeren Botschaften beschrieben wurden, neuen Sinn.
Attila Piller, in Wien lebender Künstler aus Ungarn, nimmt sich einiger Motive der ungarischen Science-Fiction-Literatur an und interpretiert die in der Literatur beschriebenen Fiktionen mit Hilfe von Fotomaterial, das, im Internet verfügbar, die Realität zu beschreiben scheint. Seine „Postkarten“ verwandeln durch seine druckgrafische Strategie die Fotos in Erinnerungen, in fiktive Erinnerungen.
Karo Riha (vgl. u.a. Um:Druck Nrn. 2/06, 9/08, 15/10) hat sich neben ihren druckgrafischen Werken intensiv mit Video als Ausdrucksmittel auseinandergesetzt und in ihren jüngeren Arbeiten Themen aufgegriffen, die aus ihrer Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen erwachsen sind. Die Verknüpfung von bewegtem Bild mit den aus der Multiplikation entstandenen Einzelbildern gedruckter Art hat es ihr ermöglicht, vielschichtige Themen adäquat zu visualisieren. Karo Riha steht für eine Generation von jungen KünstlerInnen, die mit Lust im Labor der Druckgrafik experimentieren und dabei Genregrenzen genauso auflösen wie tradierte Begrifflichkeiten. Ihre Arbeit geht der gesellschaftlichen Wahrnehmung nach und verwendet das Element der Transmedialisierung, um verborgene Strukturen sichtbar zu machen.
Transmedialisierungsprozesse haben auch in meiner – Michael Schneiders (vgl. u.a. Um:Druck 3/07, 11/09, 15/10) – Arbeit eine zentrale Rolle eingenommen. In der Ausstellung sind Arbeiten aus dem Projekt „übertragung / transfer“ (vgl. Um:Druck Nr.14/10) zu sehen. Diese Arbeiten, entworfen für den öffentlichen Raum einer U-Bahnstation, thematisieren Bilder, die von einem Medium in ein anderes transferiert werden. Digitale und analoge Techniken und Medien werden dabei kombiniert, um später Bild und Träger in Email zu verschmelzen. Die Druckgrafik – Kunst, geschaffen mit der Intention veröffentlicht zu werden – wird so zu einem öffentlichen Werk.
Druckgrafik mit einem skulpturalen Ansatz beschäftigt Michael Wegerer (vgl. Um:Druck Nrn.
3/07, 8/08, 11/09) seit Jahren. Der in London lebende Künstler hat sich der raumgreifenden Grafik zugewandt. Die Analyse des druckgrafischen Prozesses hat seiner Arbeit eine Dualität von Objekt und Abdruck eröffnet, die er in weiterer Folge zu eindringlichen Botschaften über unsere Gesellschaft und Denkmuster geformt hat. Der Abdruck eines Objektes nimmt nicht nur bestimmte Qualitäten des Objektes auf, er nimmt damit auch eine Authentizität an, die eine rational kaum zu erklärende Präsenz des ursprünglichen Objektes erzeugt. Diese Objekte erzeugen eine neue Realität, die über den Bildcharakter der gewohnten Druckgrafik hinaus gehen.
Mit realen Objekten beschäftigt sich seit Jahren auch Jan Svenungsson, schwedischer Künstler mit Wohnsitz in Berlin und Professur an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seine Druckgrafik erweitert seine Arbeit im öffentlichen Raum, diese ist beispielhaft für einen multidisziplinären Ansatz, der die Druckgrafik als Teil einer breiteren konzeptuellen Herangehensweise versteht. Die von ihm in verschiedensten Erdteilen errichteten Industrieschornsteine entziehen sich leicht der Wahrnehmung als Kunstwerke. Obwohl öffentlich und an als Kunstraum designierten Stellen stehend, bedarf es des Wissens um die Natur der Schornsteine, um eben diese als Kunstwerke zu erkennen. Durch die multidisziplinäre Arbeit wird das Motiv aus einem Rezeptionsfeld genommen und in jeweils neuem Kontext präsentiert. Die konsequente multidisziplinäre Diskussion führt zu einer Umdeutung des realen Objektes selbst.
Ausblick
Die Druckgrafik ist heute an einem Punkt angelangt, an dem selbstgewählte und oktroyierte Beschränkungen überwunden und ein freier Umgang mit den Möglichkeiten aber auch den historischen Konnotationen der Druckgrafik möglich sind. Der Digitaldruck hat Millionen von Haushalten in Druckwerkstätten verwandelt und Millionen von DruckgrafikerInnen geschaffen, die, obwohl sie sich dessen oft nicht bewusst sind, druckgrafische Konzepte umsetzen – Konzepte und Strategien, die in der Gegenwartskunst eine prominente Rolle spielen, ohne allzu oft beim Namen genannt zu werden.
Die Hoffnung besteht, im Austausch mit den KollegInnen in China das Bewusstsein für die Möglichkeiten der Druckgrafik zu schärfen und das Verständnis für die erfolgreiche Arbeit im druckgrafischen Labor zu verbessern. Die Druckgrafik diente in früheren Zeiten immer der Verbreitung von Botschaften und heute soll die Ausstellung im Shanghai Hongqiao Contemporary Art Museum als Botschafterin dienen.